Requirements Engineering: Grundlagen, aktuelle Studien und Best Practices
Warum scheitern nach wie vor so viele Projekte – trotz moderner Methoden, agiler Frameworks und smarter Tools?
Die Bitkom-Studie „Heiter scheitern im Projekt“ zeigt: Über 70 % aller Fehlerursachen entstehen in der frühen Projektphase. Also genau dort, wo Anforderungen erhoben, abgestimmt und gemanagt werden (Bitkom, 2021). Fehlendes oder schwaches Requirements Engineering gehört damit zu den größten Risikofaktoren im Projektmanagement.
Gleichzeitig entwickelt sich das Requirements Engineering (RE) weiter. Neueste Studien belegen: Während klassische Herausforderungen wie unklare Ziele und fehlende Priorisierungen bestehen bleiben, kommen zusätzliche Dimensionen wie Künstliche Intelligenz, Automatisierung, agile Anforderungen und regulatorische Compliance-Vorgaben hinzu (Mendez et al., 2024; Ferrari et al., 2023).
Was ist Requirements Engineering?
Requirements Engineering beschreibt den strukturierten Prozess, Anforderungen an Systeme, Produkte oder Projekte zu ermitteln, zu dokumentieren, zu prüfen und zu verwalten.
Die vier Kernaufgaben im Überblick:
- Elicitation (Erhebung): Interviews, Workshops, Beobachtungen und Dokumentenanalysen sorgen dafür, dass Anforderungen nicht auf Annahmen basieren, sondern auf fundiertem Input aller relevanten Stakeholder.
- Documentation: Anforderungen müssen präzise, überprüfbar und konsistent formuliert werden – etwa mithilfe von Use Cases, User Stories oder formalen Spezifikationen.
- Validation: Anforderungen werden auf Widersprüche, Realisierbarkeit und Vollständigkeit geprüft, damit spätere Überraschungen vermieden werden.
- Management: Anforderungen ändern sich – deshalb braucht es Versionierung, Priorisierung, Traceability und klare Verantwortlichkeiten.
Erkenntnisse aus der Bitkom-Studie
Die Bitkom-Studie benennt zentrale Ursachen für Projektfehlschläge (Bitkom, 2021):
- Unklare Zieldefinition: Allgemeine Aussagen wie „Wir wollen digitaler werden“ führen zu Interpretationsspielraum und späteren Konflikten.
- Fehlende Priorisierung: Wenn alle Anforderungen gleich wichtig erscheinen, wird das Projekt überlastet.
- Stakeholder nicht eingebunden: Wird die Fachseite zu spät oder gar nicht gehört, entsteht Widerstand.
- „Melonenampel“-Phänomen: Statusberichte zeigen nach außen „grün“, obwohl intern längst kritische Probleme bekannt sind.
👉 Fazit: Projekte scheitern nicht an fehlender Technik, sondern an mangelnder Klarheit und Kommunikation.
Neue Trends und Herausforderungen im Requirements Engineering
1. Anforderungen für KI- und ML-Systeme
Eine aktuelle Mapping-Studie zeigt: Klassische Methoden stoßen an Grenzen, wenn Systeme datengetrieben, unsicher und adaptiv sind (Mendez et al., 2024; Arxiv, 2024).
- Erklärbarkeit: Stakeholder müssen verstehen, wie ein KI-System Entscheidungen trifft. „Black Box“-Modelle ohne erklärbare Logik sind in regulierten Branchen kaum akzeptabel.
- Datenqualität: Anforderungen müssen definieren, welche Datenquellen zulässig sind und wie Bias erkannt wird (Ferrari et al., 2023).
- Lebenszyklus-Validierung: Da Modelle sich durch neue Daten verändern, muss auch die regelmäßige Revalidierung Teil der Anforderungen sein.
2. Automatisierung im Requirements Engineering
Eine systematische Übersicht belegt: Natural Language Processing (NLP) und Machine Learning können Anforderungen automatisch aus Textdokumenten extrahieren, Inkonsistenzen erkennen und Dubletten vermeiden (Zannier et al., 2025).
- Nutzen: Zeitersparnis, konsistentere Dokumentation, weniger menschliche Flüchtigkeitsfehler.
- Grenze: Werkzeuge können keine impliziten Annahmen aufdecken. Kontext, Strategie und Prioritäten müssen nach wie vor von Menschen geklärt werden.
3. Agile Requirements Engineering
Eine Mehrfachfallstudie zeigt: Viele Teams nutzen Testfälle direkt als Anforderungen (Arxiv, 2023a).
- Vorteil: Anforderungen sind sofort überprüfbar, da sie in Akzeptanztests übersetzt werden. Entwicklung und Validierung laufen eng verzahnt.
- Herausforderung: Nicht-funktionale Anforderungen – wie Performance, Sicherheit oder Datenschutz – lassen sich nicht ohne weiteres als Testfall ausdrücken.
4. Anforderungen und Traceability
Eine weitere Fallstudie verdeutlicht: In vielen Unternehmen fehlt die lückenlose Rückverfolgbarkeit von Anforderungen über Design und Implementierung bis zu Tests (Arxiv, 2023b).
- Fehlende Traceability führt dazu, dass Tests nicht vollständig sind.
- Bei Änderungen ist unklar, welche Komponenten betroffen sind.
- Regulatorische Nachweise (z. B. für NIS2 oder ISO 27001) sind schwer zu erbringen.
5. „Good Enough Requirements Engineering“
Eine Dissertation (Johansson, 2025) zeigt: Nicht jede Anforderung muss perfekt sein. Entscheidend ist ein pragmatischer Ansatz, bei dem Risiken bewusst gesteuert werden.
Best Practices für erfolgreiches Requirements Engineering
- Stakeholder frühzeitig einbinden – nicht nur bei Kick-off, sondern kontinuierlich.
- Anforderungen SMART formulieren (spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert).
- Ein Changemanagement aufsetzen, bevor Änderungen eintreten.
- Traceability sicherstellen – von Anforderung bis Test und Abnahme.
- Moderne Tools nutzen, die Zusammenarbeit, Versionierung und Compliance unterstützen.
- Eine offene Fehler- und Feedbackkultur pflegen, um das „Melonenampel“-Syndrom zu vermeiden.
Fazit: Requirements Engineering ist Projekterfolgssicherung
Technologie, Methoden und Tools sind entscheidend – aber ohne klare, abgestimmte und gelebte Anforderungen bleibt jedes Projekt riskant.
Die Bitkom-Studie erinnert uns an die klassischen Fehlerquellen, während neuere Forschung zeigt: KI, Automatisierung und Agilität verändern die Spielregeln.
👉 Wer Requirements Engineering ernst nimmt, reduziert Risiken, steigert Qualität und sorgt dafür, dass Projekte tatsächlich liefern.
Literaturverzeichnis
- Arxiv. (2023b). Challenges and Practices in Aligning Requirements with Verification and Validation: A Case Study of Six Companies. https://arxiv.org/abs/2307.12489
FAQ: Häufige Fragen zum Requirements Engineering
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