COBOL ist eine Technologie, die älter ist als das Internet, die Grafikkarte und das erste Mondfoto. Banken, Versicherungen, Energieversorger, Behörden: Viele ihrer zentralen Prozesse laufen bis heute auf COBOL.
Und das wäre eigentlich kein Problem, wenn die Sprache nicht so langsam in ein sehr modernes Dilemma rutschen würde: Es gibt kaum noch Menschen, die sie beherrschen. Und noch weniger, die bereit wären, damit 40 Jahre Legacy-Code zu pflegen.
Dieser Artikel erklärt, wie COBOL funktioniert, warum die Sprache überhaupt so groß geworden ist, warum der Fachkräftemangel so gravierend ist und weshalb es für viele Unternehmen fast unmöglich ist, ihre alten Systeme einfach abzuschalten.
Wie COBOL funktioniert
COBOL wurde so entwickelt, dass Menschen Geschäftslogik schnell verstehen können. Die Sprache setzt auf klare, fast schon ausschweifend beschreibende Befehle wie:
- MOVE: Wert übertragen
- PERFORM: Anweisungen ausführen
- READ: Daten einlesen
- IF … THEN: Entscheidungen treffen
Das alles ist strukturiert, lesbar und logisch aufgebaut. COBOL-Programme sind prozedural, laufen typischerweise von oben nach unten und folgen einer streng definierten Datenstruktur. Vieles basiert auf sogenannten Copybooks – Dateien, die Datenfelder beschreiben und in vielen Programmen wiederverwendet werden.
Genau diese Lesbarkeit war der Grund, warum COBOL in den 60ern und 70ern so beliebt wurde. Es war leichter zu verstehen als Assembler und ideal für Finanz- und Verwaltungsaufgaben, bei denen es vor allem um Berechnungen, Buchungen, Abgleiche und Berichte ging.
Die Kehrseite: COBOL ist starr. Modularität ist begrenzt. Änderungen sind mühsam. Und viele Systeme wurden über Jahrzehnte erweitert, ohne jemals grundlegend modernisiert zu werden.
Warum COBOL überhaupt so groß geworden ist
Der Erfolg von COBOL ist kein Zufall. Die Sprache entstand 1959 durch das CODASYL-Komitee, stark beeinflusst von Grace Hopper. Ihr Ziel war eine Programmiersprache, die möglichst nah an der Geschäftswelt liegt – damit Unternehmen nicht für jede Erweiterung tief in Maschinencode einsteigen mussten.
Die Idee funktionierte. Unternehmen investierten massiv in große Hostsysteme, die mit COBOL liefen. Und diese Systeme bewährten sich über Jahrzehnte, da sie unglaublich stabil, schnell im Batchbetrieb, für hohe Lasten ausgelegt und natürlich hart erprobt und zuverlässig sind.
COBOL wurde zu einer Art Betriebssystem der Wirtschaft. Alles, was wichtig war – Kontostände, Versicherungsverträge, Steuerdaten, Rentenberechnungen – wurde dort abgebildet. Man hätte es kaum besser treffen können.
Doch genau das führte zu einem langfristigen Effekt: Die Systeme waren so stabil, dass niemand Druck verspürte, sie grundlegend zu modernisieren.
Das eigentliche Problem: Fachkräftemangel
Heute zeigt sich die Schattenseite dieser Stabilität. Die Menschen, die COBOL gelernt haben, sind oft seit 20, 30 oder 40 Jahren im Beruf. Viele stehen kurz vor dem Ruhestand, manche sind bereits weg. Und die Nachfrage nach COBOL-Entwicklern ist zu einer Art stillem Markt geworden, mit sehr wenigen verfügbaren Spezialisten.
Das führt zu mehreren Problemen:
- Wissen verschwindet, weil es nie vollständig dokumentiert wurde.
- Schlüsselpersonen gehen, ohne dass jemand die Systeme vollständig versteht.
- Fehleranalyse wird schwierig, weil der Code über Jahrzehnte gewachsen ist.
- Neue Entwickler fehlen, weil COBOL kaum noch gelehrt wird.
- Jede Änderung dauert viel länger, schlicht weil niemand es schnell „mal eben“ anpasst.
Unternehmen merken plötzlich, dass ihre wichtigsten Systeme von einer Schrumpffachkraft abhängig sind. Und die Unsicherheit wächst, denn was passiert, wenn der letzte COBOL-Entwickler das Unternehmen verlässt?
Warum man COBOL-Systeme nicht einfach ersetzt
Aus der Entfernung klingt es leicht: Dann modernisieren wir eben. In der Realität ist genau das der komplizierteste Schritt. Viele COBOL-Systeme haben über Jahrzehnte eine Art Eigenleben entwickelt, das man nicht einfach mit einem neuen Toolset ablösen kann.
Viele dieser Anwendungen sind im Laufe der Zeit zu großen, monolithischen Gebilden herangewachsen. Jede neue gesetzliche Vorgabe, jede kleine Produktanpassung, jede technische Erweiterung wurde einfach oben drauf gesetzt: Schicht für Schicht und oft ohne eine grundlegende Überarbeitung. Das Ergebnis ist ein System, das zwar funktioniert, aber dessen Struktur kaum jemand vollständig überblickt.
Hinzu kommt die enge Verzahnung mit der restlichen IT-Landschaft. Ein typisches COBOL-System hängt nicht an einer einzigen Datenbank, sondern an dutzenden oder sogar hunderten Schnittstellen. Zahlungsverkehr, Altverfahren, interne Backoffice-Systeme, Steuerlogiken, Berichtsprozesse – über die Jahre ist ein Geflecht entstanden, das sich kaum ohne Nebenwirkungen anpacken lässt. Jede Änderung an einer Stelle beeinflusst fünf andere.
Ein weiteres großes Problem ist die Dokumentation. In vielen Organisationen existiert die tatsächliche Geschäftslogik nicht in irgendeinem übersichtlichen Architekturdiagramm, sondern ausschließlich im Quellcode selbst oder schlimmer: im Kopf der wenigen Personen, die seit den 80er- oder 90er-Jahren an diesen Systemen arbeiten. Geht dieses Wissen verloren, verliert man im Grunde auch einen Teil der Software.
Manche Unternehmen könnten es sich schlicht nicht leisten, dass ihr Kernsystem auch nur für einen Tag stillsteht. Ein Fehler in einer Finanztransaktion oder eine Unterbrechung in einem kritischen Verwaltungsprozess kann enorme Auswirkungen haben. Das macht jede Modernisierung zu einer heiklen Operation am offenen Herzen.
Gleichzeitig ist die Ablösung teuer und dauert Jahre. Nicht, weil der Wille fehlt, sondern weil niemand mehr die komplette Funktionsweise des Altsystems versteht. Jede Analyse, jeder Migrationsschritt bedeutet Recherchearbeit, Rücksprachen, Tests und die ständige Angst, dass eine unscheinbare Kleinigkeit ein komplettes Modul ins Wanken bringt.
Und dann gibt es noch einen paradoxen Faktor: Viele dieser COBOL-Systeme laufen bis heute unglaublich stabil. Sie stürzen nicht ab, sie verlieren keine Daten, sie verrichten ihre Arbeit zuverlässig. Genau diese Zuverlässigkeit macht es schwer, Budgets für eine Ablösung zu rechtfertigen, bis eben plötzlich ein Personalproblem alles infrage stellt. Oft ist es schließlich nicht die Technik, die den Modernisierungsdruck erzeugt, sondern der Moment, in dem klar wird, dass niemand mehr da ist, der das System versteht.
Welche Wege realistisch sind
Trotz dieser Herausforderungen gibt es bewährte Wege, um aus der Abhängigkeit herauszukommen. Niemand muss das Altsystem von heute auf morgen ablösen. In der Praxis hat sich gezeigt, dass große „Big Bang“-Migrationen selten funktionieren. Was funktioniert, sind schrittweise, gut geplante Übergänge.
Ein sinnvoller Startpunkt ist fast immer ein tieferes Verständnis des bestehenden Systems. Das klingt banal, ist aber entscheidend: Wissen sichern, Dokumentation nachziehen, Geschäftslogik sichtbar machen. In vielen Fällen ist dieser Schritt schon ein enormer Gewinn, weil er das System überhaupt erst wieder handhabbar macht.
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, einzelne Teile der Anwendung nach und nach in moderne Architekturen zu überführen. Nicht alles auf einmal, sondern in klar definierten Etappen, z.B. modulweise, funktionsweise oder entlang bestimmter Prozesse. Parallel dazu kann das Altsystem weiterlaufen, während neue Komponenten entstehen.
Manche Unternehmen entscheiden sich auch für einen Plattformwechsel, also dafür, das bestehende System auf eine modernere Infrastruktur zu heben, ohne sofort den gesamten Code neu zu entwickeln. Andere setzen auf selektives Re-Implementieren dort, wo es technisch oder wirtschaftlich am meisten bringt.
Gemeinsam ist all diesen Wegen eines: Sie brauchen Zeit und eine realistische Planung. Aber sie machen den Übergang kontrollierbar und sie holen das Unternehmen aus der Sackgasse heraus, in die es oft erst unbemerkt geraten ist.
Fazit
COBOL hat über Jahrzehnte eine beeindruckende Rolle gespielt. Es hat Banken stabil gehalten, Versicherungen verlässlich gemacht, Verwaltungsprozesse abgesichert und die Grundlage für unzählige Organisationen geschaffen, die bis heute auf diesen Systemen arbeiten. Doch die Welt um diese Systeme herum hat sich verändert und die Menschen, die sie einst gebaut und verstanden haben, werden weniger.
Das macht COBOL nicht zu einem schlechten System. Im Gegenteil: Die Zuverlässigkeit dieser Anwendungen ist der Grund, warum sie so lange überlebt haben. Aber genau diese Zuverlässigkeit führt dazu, dass viele Unternehmen die Realität erst spät sehen. Es ist nicht die Technik, die drängt. Es ist der Zeitpunkt, an dem klar wird, dass das System irgendwann niemand mehr betreuen kann.
Deshalb geht es längst nicht mehr um die Frage, ob man sich mit dem Thema Modernisierung beschäftigen sollte, sondern darum, wann man damit beginnt und wie man es so angeht, dass das Unternehmen dabei handlungsfähig bleibt.